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Die Ausweglosigkeit des Vergessens
von Aida Miron


Niemand zeugt für den Zeugen

In den Flüssen nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.

Tief
in der Zeitenschrunde
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.

Celan, Atemwende



Wenn wir von “rekonstruierter Erinnerung” in Lettland sprechen, müssen wir den Diskurs von Vergebung und Vergessen analysieren. Nicht nur mit der Aporie des Erinnerns sondern auch mit der des Ortes konfrontiert, in dem Moment wenn wir diesen Versammlungs- und Gebetsraum – die Synagoge – zur Diskussion öffnen, betreten wir die Aporie des Unmöglichen und des „Unerinnerbaren“ (1). Durch Fragen und Ängste beginnen wir die Notwendigkeit zu verstehen, einzugehen auf das Schweigen der Geschichte, wenn auch durch die Unfähigkeit der Sprache oder die Unmöglichkeit eines abgeschlossenen Projektes, und auf „das“ (2) einzugehen, was die Unmöglichkeit der Rede heraufbeschwört. Im Dialog werden wir fähig, die drängende Angelegenheit der Synagoge und jüdischer Erinnerung zu durchdenken und Möglichkeiten zu denken. In diesem Eingehen auf die Synagoge und in diesen Diskussionen ihrer Renovierung / Rekonstruktion beginnen wir zwischen Schweigen und der Frage nach Zeugenschaft und Verantwortung zu unterscheiden. Es ist etwas anderes, das Schweigen oder den Widerwillen der Zeugen zu Sprechen zu respektieren, oder der Neigung gewisser Schreiben/Räume „in Richtung Schweigen“(3), und dem zum Schweigen bringen der Zeugen, oder dem schweigenden Bezeugen ihrer Auslöschung. Der Diskurs kann nicht der Verantwortung ausweichen aufgrund seiner Unfähigkeit das „Unsagbare“ anzusprechen.
In einer gleichen Weise kann das Projekt einer Rekonstruktion nicht umgangen werden, da das Umgehen es riskiert einer doppelten Gewalt und Amnesie. Die Betonung liegt hier nicht auf einer architektonischen Rekonstruktion, sondern auf einer Projektion der Möglichkeit einer Rekonstruktion. Doch was bringt ein solches Projekt mit sich? Laufen wir Gefahr einer widerrechtlichen Aneignung, wenn wir Veränderungen und Ersetzungen heraufbeschwören / fordern, und an eine Mahnmal, Denkmal oder neue Nutzungen denken: Museum, Bibliothek, usf.? Wir nähern uns nicht der Synagoge als ein Gebäude oder ein Symbol, doch als das, was in seiner Gegenwart die Abwesenheit einer Gemeinschaft und die Erinnerung an die Shoa beinhaltet. Wir haben hier die Aporie eines Ortes, eines Ortes, der ab seiner Gegenwärtigkeit steht, und von Abwesenheit spricht, der des Zeugen, der der Erinnerung, und von Schweigen. Wie wenden wir uns dann, heute und in Lettland, der Synagoge zu? Wie können wir diesen Diskurs der „Gemeinschaft“ öffnen, den Diskurs der Verantwortung? Wie sich an diesen Ort von Gebet und Gedanke wenden in diesem Fall, wo es keine Gemeinde, Gemeinschaft, mehr gibt, die sich diesen Ort aneignen und nutzen kann? Oder gibt es die Möglichkeit einer Rückkehr, der Rückkehr des Zeugen, oder die Rückkehr zum Zeugen? Gibt es das? Die Rückkehr der Gemeinde, die der Exilierten, die ihrer Nachkommen, eine Rückkehr zur Erinnerung oder zum Ort.
Gesetzt den Fall es gebe keine Überlebenden mehr, bleibt die Synagoge als Zeugnis. Doch was passiert, wenn dieses Zeugnis nicht mehr gegenwärtig ist, präsent ist, doch in seiner Abwesenheit bedrängender? (4) (Wie im Fall der Zeugenschaft dessen, dem es nie möglich war zu bezeugen, der versteckten Massengräber, der niedergebrannten, zerstörten Synagogen, der zerstörten Gemeinden, der entfernten Spur der Auslöschung, wirken sie in ihrer Abwesenheit auf das Heute ein. (4a) Die meisten Synagogen im Baltikum wurden zerstört, wie begegnen wir dann den unerklärlichen Plätze der einstigen Synagogen, Friedhöfe und Begräbnisstellen? Wie beginnen wir ihnen nachzuspüren? Ist das Mahnmal, oder Denkmal, der richtige Weg der Zuwendung, wenn die Abwesenheit das entscheidende Ding ist, welches der Repräsentation entweicht? Es ist in dieser Repräsentation, wo Spuren Gefahr laufen, wenn nicht ausgelöscht zu werden, dann doch vergessen. Lyotard argumentiert damit, daß in der Politik des Vergessens (sie selbst unpolitisch), wie sie nach „Auschwitz“ fortbestand, „(...)es mindestens zwei Arten diesen Politik gibt: die erste führt durch Auslöschung fort, die zweite durch Repräsentation ... Wann immer man darstellt (represents), schreibt man in das Gedächtnis, in die Erinnerung ein, und dies scheint eine gute Verteidigung gegen das Vergessen zu sein. Es ist ... genau das Gegenteil. Nur das, was eingeschrieben wurde, kann, im gängigen Sinn des Begriffs, vergessen werden, da es ausgelöscht werden kann (5) ... Es muß gefürchtet werden, daß durch Repräsentation, [die Shoa] zu einer „gewöhnlichen“ Repression, Unterdrückung wird.“ (Lyotard 26) Wir dürfen diese Gefahr der Einschreibung nicht verwechseln mit Schreiben, oder denken, daß Repräsentation ausgewichen werden kann, doch wir müssen mit Umsicht (care) fortfahren und die extreme Gefahr in einigen Fällen der Annährung an das Mahnmal betonen. Das ist der Fall, wo das Denkmal oder „Projekt“ versucht, das Fragment oder die Spur zur Totalität zu machen, ein Ganzes, und durch die Repräsentation der Erinnerung vergißt, was in Frage steht.
Wie ist diese Verantwortlichkeit verbunden zur Frage des Vergebens, oder des Vergessens? Wie leben mit der Gegenwart einer Vergangenheit, wenn es daran erinnert, „das“, was nach einer nicht-annehmbaren Verantwortlichkeit verlangt und es nicht vergangen ist? Danach gefragt, ob man vergeben soll, antwortet Wladimir Jankéléwitsch, daß „wir sollten nicht vergeben ... und auch nicht vergessen.“ Für Derrida bezieht sich die Frage des kollektiven Verzeihens besonders auf Orte und Momente: „ Wer fragt wen um Vergebung in welchem Moment? ... Vergibt jemand jemandem oder etwas, wem oder was?“ Derrida fragt beim Wiederlesen von Jankéléwitsch, ob es so etwas gibt wie die Möglichkeit wahrer Vergebung, gemessen an „dem Unmöglichen“, und Jankéléwitsch antwortet: „Dieses Vergeben starb in den Todeslagern... daß die Geschichte des Vergebens... diese Geschichte an ein Ende gekommen ist.“(6) Weit hinter einem menschlichen Maßstab seiend fragt Vergebung das Unmögliche, es ist die Aporie des Vergebens, da es das Unvergebbare vergeben muß: „Die Einzigartigkeitder Shoa erreicht die Dimension des Unerklärlichen“ (Derrida II). Die Beziehung zwischen Opfer und Täter ist weit hinter dem Reich der Ethik.
Agamben spricht eine ähnliche Frage der Verantwortung in seiner Beziehung zur Ethik an. Im Plazieren von Vergebung und Ethik in den Bereich außerhalb des Juristischen, analysiert Agamben die „graue Zone“ der Verantwortung zwischen Täter und Opfer, wo das Juristische eng verbunden ist mit Schuld und Ethik ist weit hinter der Kategorie von Beurteilung und kann nicht „eine unendlich größere Verantwortung als daß, was wir jemals voraussetzen können“ voraussetzen/annehmen“ (Agamben 11) Nach Auschwitz findet Ethik sich selbst konfrontiert mit einer „grauen Zone“ ...... Einer Zone der Unverantwortlichkeit zwischen dem „Menschlichen und dem Unmenschlichen“. Hier ist Zeugnis der Abgrund zwischen Gedanke und Undenkbarem:

„Vielleicht wurden alle Wörter, alle Schreiben geboren, in dem Sinne von Zeugnis, und deswegen ist das was bezeugt, nicht länger Sprache, nicht länger Schreiben und kann nur das Nicht-Zeugnis sein. Das ist der Sound, der uns vom Abgrund her erreicht, die Nichtsprache, die alleine spricht mit der Korrespondenz der Sprache und von der es geboren wurde.“ (Agamben 20)

Es ist entlang der selben Linie dieses Gedankens eines Abgrundes, wenn Lyotard dem Gedanken, Adornos, „im Abgrund bleibend, konfrontiert mit dem eigenen Disaster, ist Ringen nicht das Weitermachen entlang seiner repräsentischen Linie, sondern Annährung an das, was nicht zu denken möglich gewesen ist und was es nicht denken kann“ entgegentritt; „Philosophie als Architektur ist ruiniert, doch ein Schreiben der Ruinen, Mikrologien, Graffiti, kann immer noch getan werden.“ (Lyotard 43) Wenn es immer noch die Möglichkeit eines Denkens/Schreibens nach der Katastrophe/Disaster gibt, eine der Fragmentierung und der Ruinen (7), wie durchdenken wir dann eine Ruinenarchitektur?
Von Kafka bis Clean bis Benjamin, finden wir das Schreiben, „das das Vergessene erhält“.
Wir finden ein Schreiben, welches transformiert wurde und in seiner Fragmentierung am Nähesten eines Zeugnisablegens kommt. In diesem fragmentarischen Schreiben und im Wechseln in Sprache (oder im Bruch) können wir damit beginnen, uns den betreffenden Spuren zu stellen. Wie bezieht sich dieser Gedanke des Abgrundes, diese Zäsur in der Geschichte, dieses Brechen der Sprache auf die Spuren der betreffenden jüdischer Erinnerung? Da wir hier auch mit Fragmenten und Ruinen uns auseinandersetzen, und es wesentlich ist, uns dem uns hier betreffenden Architekturprojekt anzunähern durch ein Erhalt des „Vergessenen“. Die Synagoge als etwas, das von etwas zerstörtem bleibt: eine Gemeinschaft, eine Sprache, ein Ort und eine Erinnerung, richtet sich in ihrem derzeitigen ruinösen Zustand und im Besitztum des Abgrundes an das eine Vergessene. Wenn wir in Sprache und Denken eine Bewegung in Richtung eines Aussens einer Sprache finden, und in Richtung eines anderen im Schreiben, hinter den Begrenzungen von dem, was gedacht werden kann und von dem gesprochen werden kann, wie wenden wir dann diese Abwesenheit/diesen Bruch in architektonischen Begriffen an? Gibt es eine Möglichkeit eines Wiederaufbaus aus Trümmern?

„Welchen der Steine du hebst – du entblößt, die des Schutzes der Steine bedürfen (...)Welches der Worte du sprichst – du dankst dem Verderben.“ (Celan).

Was repräsentiert dann die ungenutzte / ruinierte Synagoge und für wen? Ist es möglich, diesen Raum „wiederaufzubauen“ (reconstruct) ohne die herauszustellen, “die des Schutzes der Steine bedürfen”? Wir müssen damit beginnen, diesen speziellen Ort zu respektieren, und die mit jeder Synagoge verschmolzenen Geschichten nachspüren. Ist es möglich zurückzukehren, zu rekonstruieren /wiederaufzubauen und zu genesen, wenn die Aneignung bereits eine Auslöschung der Spur impliziert? Was heißt es im derzeitigen Kontext von Stadtverwaltung und Bürgern in Kuldiga zu erhalten, zu rekonstruieren / wiederherzustellen? Wir könnten mit den Fragen beginnen, was eigen ist im Sinne von geeignet sein und Eigentum? Was ist die geeignete Nutzung für diesen Raum? Das Sprechen von Nutzungsveränderung, Denkmal und Umformung läuft Gefahr unangemessen zu sein, doch den aktuellen Zustand mit einem weiteren Schweigen zu konfrontieren, beinhaltet die Gefahr von Auslöschung und Vergessen. Wir müssen diese Ruinen sorgsam begehen und aufmerksam der Stille zuhören, die daraus erwächst, da „Zäsur Bedeutung hervorbringt“ (Derrida I, 71). Fragmentierung entfaltet Gebiete vielfältiger Diskontinuitäten, dabei interpretierbare Spuren und Stillen hinterlassend. Wie bewegen wir uns durch diese Spuren hin zu der Möglichkeit eines Wiederaufbaus des Ortes? Wie bewegen wir uns von Spur zu Ort (trace to place)? Was ist die Zukunft der Synagoge nach der Shoa? Wir müssen antworten auf diese drängende Frage, auch wenn wir die Aporie des Unsagbaren betreten, außerhalb von Sprache und Darstellung, im Reich zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.


Anmerkungen

1. Lyotard bezieht sich auf das “Paradox des Nichterinnerbaren“, das sich bei Deleuze und Freud findet, etwas, das der Vergangenheit von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nahekommt: „die Art von Vergangenheit, die uns hier interessiert, eine Vergangenheit, die diese Seite des Vergessenen verortet, viel näher an den jetzigen Augenblick als irgend ein vergangener, zur selben Zeit, was unfähig ist in Anspruch genommen zu werden durch freiwillige und bewußte Erinnerung – eine Vergangenheit (...), die nicht vergangen ist doch stets da ist.“ (Lyotard 12)

2. “Was starb in ihm in Chelmo?”

“Alles starb. Doch er ist nur Mensch, und er möchte leben. Also muß er vergessen. Er dankt Gott, für das was übrigbleibt, und daß er vergessen kann. Und laß uns nicht darüber reden.”
-Michael Peldchlbnik in Lanzmann’s Shoah

3. “Dichtung zeigt heute eine starke Neigung Richtung Schweigen Stille …” Paul Celan

4. “Eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist, die nicht die Gegenwart verfolgt, in dem Sinne, das ihre Abwesenheit gefühlt wird, würde sich selbst signalisieren, sogar in der Gegenwart als ein Gespenst, eine Abwesenheit, welche es nicht im Namen der vollen Wirklichkeit beinhaltet, welche nicht ein Gegenstand der Erinnerung ist wie etwas das vergessen worden möge und reinnert werden muß (...) Es ist also nicht einmal da als ein „leerer Raum“, als Abwesenheit (...) doch nichtsdestotrotz ist es dort.“ (Lyotard 1).

4a “Die Juden, die massenweise ermordet wurden sind, abwesend, gegenwärtiger als die gegenwärtigen (Lyotard 39).“

5. Lyotard erklärt die Nazipolitik als eine des absoluten Vergessens, betrieben durch Auslöschung und Repräsentation: „Augenscheinlich überschreitet eine Politik der Auslöschung die Politik.“ (25) „Doch darf man nicht ... mit Darstellung verwechseln. Man muß gewiß in Worten, in Bildern einschreiben. Man kann nicht der Notwendigkeit der Darstellung entkommen. Es wäre eine Sünde zu glauben, sicher und kräftig zu sein. Doch es ist eine Sache, es mit Blick auf Geld sparen zu sehen und eine recht andere, im Schreiben die Reste zu erhalten, das unvergeßlich Vergessene“. (Lyotard 26) 6. Derrida bezieht sich auf die Arbeit über Jankéléwitschs Werk von 1971 über die Frage nach dem Verzeihen und dem Vergeben. (Derrida, „ Gewalt und Vergebung“). 7. In “Edmund Jabes und die Frage nach dem Buch” spricht Derrida von der Stimme des Dichters: “Schreiben selbst ist geschrieben, doch auch ruiniert, zu einem Abgrund gemacht in seiner eigenen Darstellung. (65), später reklärt er: „Das Fragment ist weder ein determinierter Stil noch ein mißlungener Versuch, doch die Form von dem, das geschrieben ist (....) Die Zäsur beendet und fixiert nicht einfach Bedeutung (....) Die Zäsur läßt Bedeutung hervorkommen.” (Derrida, Schreiben und Unterschied 65, 71)

8. Celan, Paul, „Welchen der Steine Du Hebst“ aus “Von Schwelle zu Schwelle”. 1955.

representation: meint neben Repräsentation, auch Ausprägung, Darstellung, Vertretung und Vorstellung.

Aporie: Einsicht in das eigene philosophische Nichtwissen und die Unlösbarkeit eines philosophischen Problems


Bibliografie

Agamben, Giorgio (1999). LO QUE QUEDA DE AUSCHWITZ. El archivo y el testigo, HOMO SACER III, PRE-TEXTOS. [Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive.]

Celan, Paul, Poemas. Traducción de Pable Oyarzun. Escuela de Filosofía, Universidad ARCIS.

Derrida (I), Jacques, Seminar: “Gewalt und Vergebung,” New York University, Oct 2, 2001.

Derrida (II), Jacques, Writing and Difference, The University of Chicago press, 1978.

Lyotard, Jean-Francois. Heidegger and the ‘jews’. Minneapolis: University of Minnesota Press. 1990



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