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Die >Aktion 1005< in Rīga
by Jens Hoffmann


“Operation 1005„ in Rīga, translation to english
translation to latvian

Einleitung

Gegenstand meines Vortrages wird das sein, was der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow lakonisch als „A sudden sensitivity about evidence” charakterisierte, als die plötzliche Empfindsamkeit der Deutschen gegenüber Beweisen.

In seinem Reisebericht >To Jerusalem and back< erzählt Bellow von Verwandten, die während der Herrschaft der Deutschen in Rīga lebten. Eine seiner Cousinen musste in dieser Zeit zusammen mit ihrer Schwester Zwangsarbeit in einer Fabrik leisten, in der Uniformen für die Wehrmacht hergestellt wurden. Als dann die Deutschen im Herbst 1944 wegen der sich stetig nähernden sowjetischen Armee mit ihrem Rückzug aus Lettland begannen, wurden die beiden Frauen zusammen mit anderen Gefangenen gezwungen, Massengräber im Stadtgebiet von Rīga zu öffnen und die Leichen Tausender Ermordeter zu verbrennen. Die jüngere der beiden jüdischen Frauen überlebte diese Arbeit nicht, sie erkrankte und starb unter Umständen, die der Autor nicht näher beschrieb.(1)

Die Ereignisse, die Bellow erwähnt, wurden von den deutschen Tätern „Aktion 1005” bzw. „Enterdungsaktion” genannt, beides Tarnbezeichnungen für die systematische Auslöschung der Spuren von Massenmorden, die die Deutschen während des zweiten Weltkrieges begingen.

Im Unterschied zur umfangreichen Literatur über die Shoah ist die Verwischung der Spuren bislang nur selten Gegenstand historischer Forschung gewesen. In Gesamtdarstellungen der Shoah - etwa in den Werken von Gerald Reitlinger, Raul Hilberg, Leni Yahil, Peter Longerich oder Saul Friedländer - wird die „Aktion 1005” entweder gar nicht oder nur sehr kurz untersucht.

Eine bemerkenswerte Ausnahme jedoch ist im Bereich der Kunst zu finden. Claude Lanzmann entschied sich während der Montage seines Films >Shoah< (1985) dafür, nicht mit der Machtübernahme Hitlers oder der NSDAP, mit der organisatorischen Vorbereitung der Massenmorde in Deutschland oder mit den Morden an den Tatorten der Einsatzgruppen oder in den Vernichtungslagern zu beginnen, sondern mit der systematischen Verwischung von Mordspuren in Chełmno und an der Exekutionsstätte Ponary bei Kaunas. Ich denke, Lanzmann traf seine Entscheidung nicht nur, weil er im Verlauf seiner Arbeit feststellen musste, dass es nur wenige Filmdokumente von den Massenmorden der Deutschen existieren, sondern auch, weil er erkannte, dass die Probleme der Darstellung der Shoah nicht zuletzt davon herrühren, dass sich deutsche Täter bis zum Ende des zweiten Weltkriegs mit großem organisatorischen und personellen Aufwand um die Auslöschung von Spuren und die Ermordung von Zeugen bemühten. Konsequenterweise also lässt Lanzmann seinen Film mit dem von Deutschen hergestellten Nichts beginnen, mit dem Fehlen von Spuren und den schmerzhaften Versuchen von Überlebenden, dieser größten Katastrophe der europäischen Juden Namen zu geben.

In einer der ersten Szenen von „Shoah” steht Simon Srebnik, einer von drei Überlebenden des Vernichtungslagers Chełmno, am Rand einer Wiese, der nicht mehr anzusehen ist, dass sich dort das >Waldlager< befand, jener Teil des Lagers, in dem die Gaswagen mit den Leichen der Ermordeten ankamen. Simon Srebniks erster gesprochener Satz soll das Motto des Vortrages sein. Srebnik sagt: "Es ist schwer zu erkennen, aber das war hier."(2)


Teil 1 - Überblick zur >Aktion 1005<

Mein Vortrag besteht aus zwei Teilen. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick zur Geschichte der >Aktion 1005<, im zweiten Teil werde ich über die Verwischung von Mordspuren in Rīga sprechen.

Die Vorbereitung der >Aktion 1005< lässt sich in Umrissen bis Januar 1942 zurückverfolgen. Die Empfindsamkeit zumindest eines Teiles der Deutschen gegenüber Beweisen stellte sich also nicht plötzlich ein, sondern hatte, wie die meisten ihrer Verbrechen, eine organisatorische Vorgeschichte. ZeitgenÖssische Schriftstücke oder mündliche Befehle, die die Rekonstruktion der Anfangsphase erleichtern würden, sind nicht überliefert. Überraschend ist dies nicht. Dass bei der Auslöschung von Verbrechensspuren keine neuen Spuren entstehen sollten, leuchtet ein.

Den Auftrag zur Leitung der >Aktion 1005< erhielt Paul Blobel, ein langjähriger Nazi-Aktivist und bewährter Kommandeur im Vernichtungskrieg mit der Sowjetunion. Am 13. Januar 1942 wurde Blobel als Führer des Sonderkommandos 4a abgelöst und nach einem kurzen Treffen mit dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich in Warschau für weitere Instruktionen nach Berlin geschickt. Dort informierte ihn Heinrich Müller, der Chef der Gestapo, über Einzelheiten des Auftrages und verpflichtete ihn zu strikter Geheimhaltung seiner Tätigkeit. Wie die Massenmorde in den Vernichtungslagern sollte die >Aktion 1005< als „Geheime Reichssache” betrieben werden. Bei der bereits Ende Februar 1942 verwendeten Tarnbezeichnung "1005" handelte es sich um ein Geschäftszeichen des RSHA, unter dem Blobels Auftrag verwaltet wurde.

Nach den Instruktionen in Berlin ließ sich Blobel von seinem Fahrer Julius Bauer nach Łódź bringen. Die Stadt war wegen der Nähe zum Vernichtungslager Chełmno als zeitweilige Basis ausgewählt worden. Aus Geheimhaltungsgründen richtete Blobel dort keine eigene Dienststelle ein. Als zeitweilige Helfer holte er sich jedoch zwei Männer seiner früheren Einheit nach Łódź, Franz Halle und Wilhelm Tempel. Im Verlauf des Sommers 1942 hielt sich Blobel dann mehrmals im >Waldlager< von Chełmno auf, um Verfahren zur Verbrennung von Leichen zu erproben. Auch das örtliche Lagerpersonal hatte ein Interesse an den Experimenten Blobels, der bereits als Pionier im ersten Weltkrieg einiges über Flammenwerfer und Brandbomben gelernt hatte. Wegen der Sommerhitze waren die in Massengräbern verscharrten Leichen der Opfer zu einem hygienischen Problem geworden. Die umweltbewussten Mörder sorgten sich um die Qualität des Grundwassers und empfanden die an den Gruben merkbar werdenden Gerüche und Flüssigkeiten als ästhetische Zumutung.

Doch nicht nur die von zeitweiliger Nervosität bewegten Männer des Sonderkommandos Bothmann in Chełmno wollten von Blobels Versuchen profitieren. Am 16. September 1942 trafen der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, und seine Angestellten Walter Dejaco und Franz Hößler im >Waldlager< ein und ließen sich von Blobel erklären, dass bei der Verbrennung exhumierter Leichen besonders auf die abwechselnde Schichtung von Brennholz und Leichen zu achten sei und unverbrannte Knochenreste in so genannten Kugelmühlen zerkleinert werden könnten, die die in Hannover ansässige Firma Schriever & Co. selbstverständlich auch nach Auschwitz liefern werde.

Hinweise gibt es überdies auf Kontakte zwischen Blobel und Christian Wirth, dem Inspekteur der Vernichtungslager Bełżec, Sobi&bór und Treblinka, wo die Massenmörder ebenfalls ab Sommer 1942 über Betriebsprobleme zu klagen begannen. Nach Aussage des früheren Kommandeurs von Sobi&bór und Treblinka, Franz Stangl, stammte die Idee, Leichen auf Rosten aus Eisenbahnschienen zu verbrennen, von Paul Blobel. Wirth sorgte schließlich für eine Modifikation des Vernichtungsprozesses in den drei Todeslagern: er ließ mehr Gaskammern bauen, Verbrennungsplätze für die Leichen der Erstickten anlegen sowie alle Toten exhumieren und verbrennen, die in der Anfangszeit der Lager vergraben worden waren. Zu den Arbeiten an den Gruben und Verbrennungsplätzen wurden jüdische Häftlinge gezwungen.

Die Lagerleitung von Auschwitz wandte Blobels Methoden nur zeitweilig an. So zwischen Ende September und Ende November 1942 bei der Verbrennung von etwa 50.000 vergrabenen Toten in Birkenau und im Verlauf des Sommers 1944 während der Ermordung von jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Ungarn, als wegen der großen Zahl der Deportierten technische Probleme in den vier kombinierten Gaskammer- und Krematoriumsanlagen von Birkenau auftraten. Auch in Auschwitz wurden jüdische Häftlinge zu den Arbeiten an den Verbrennungsplätzen gezwungen.

Das erste 1005-Kommando versammelte Blobel spätestens im Juni 1943 im Konzentrationslager Janowska in der galizischen Stadt Lwów (Lemberg). Die Deutschen betrieben Janowska gleichzeitig als Zwangsarbeitslager, Durchgangsstation für Menschentransporte in die Vernichtungslager und als Tatort von Massenexekutionen. Jüdische Häftlinge bildeten die große Mehrheit der Inhaftierten, mehrheitlich jüdische Zivilisten waren es auch, die die Deutschen in dem „Piaski” genannten, aus Steinbrüchen bestehenden Gelände in unmittelbarer Nähe des Lagers und in einem östlich von Janowska gelegenen Waldgebiet erschossen und verscharrten.

Im Unterschied zu den meisten anderen Tatorten der >Aktion 1005< können wir uns ein annäherndes Bild von den Lebensbedingungen jener insgesamt 129 jüdischen Männer machen, die ab dem 15. Juni 1943 als so genannte „Todesbrigade” gezwungen wurden, Leichen in Janowska und Umgebung zu verbrennen. Denn bei den Informationen, die zu diesen Spurenverwischungen vorliegen, handelt es sich nicht nur um die in der Regel beschönigenden Nachkriegsaussagen deutscher Täter, sondern auch um Zeugnisse von überlebenden Häftlingen des Sonderkommandos, die sich am 19. November 1943 gegen die deutschen Wachmänner erhoben. Zwölf der entkommenen Männer erlebten das Ende des Krieges, einer der Überlebenden, Leon Weliczker-Wells, verfasste einen detaillierten Bericht über die Geschichte der „Todesbrigade”, der Anfang der 60er Jahre auch in den USA, Frankreich und der Bundesrepublik veröffentlicht wurde.

Das Schema, nach dem die Täter der >Aktion 1005< in Janowska vorgingen, wurde mit leichten Variationen auch an allen anderen Tatorten der Sonderkommandos 1005 angewandt. Die Besonderheit des Lagers bestand jedoch darin, dass hier neben Spurenverwischungen auch Schulungskurse über die Technik der Leichenverbrennung für Täter der >Aktion 1005< stattfanden.

In der Regel wandte sich Blobel oder einer seiner Stellvertreter - Arthur Harder, Hans Sohns, Friedrich Seekel und Paul von Radomski - direkt an die jeweiligen Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD (KdS/BdS) oder an die Himmler unterstellten Höheren SS- und Polizei-Führer (HSSPF) und überbrachte ihnen mündlich den Befehl zur Beseitigung der Massengräber in ihrem Herrschaftsgebiet.

Anschließend wurden dann die 1005-Kommandos aus einigen Beamten des Sicherheitsdienstes (SD) sowie aus einer zahlenmäßig stets größeren Gruppe von Schutz- oder Ordnungspolizisten zusammengestellt. Die Männer des SD besaßen entweder bereits Kenntnisse über Lage und Umfang der zu beseitigenden Gräber oder erhielten diese Informationen von den örtlichen Dienststellen der Sicherheitspolizei. Die Polizisten der Kommandos, die in der Regel erst nach der Ankunft an den Tatorten über den Gegenstand ihrer Arbeit informiert wurden, stellten die Wachmannschaft. Sie riegelten die Arbeitsstellen mit Postenketten ab, um Passanten von den Tatorten fernzuhalten und Fluchtversuche von Arbeitshäftlingen mit Waffengewalt zu verhindern. Vor Beginn ihres Einsatzes, dessen technische Leitung die SD-Beamten übernahmen, wurden die Männer der 1005-Kommandos auf Verschwiegenheit verpflichtet.

Für die Arbeiten an den Massengräbern holten sich die Führer der 1005-Kommandos Häftlinge aus örtlichen Gefängnissen, Konzentrationslagern, Ghettos, Zwangsarbeits- oder Kriegsgefangenenlagern. Je nach Umfang der Spurenverwischungen bestanden die Arbeitskommandos aus einigen Männern oder - wie in Babi Yar bei Kiew - aus mehr als 300 Gefangenen. In Kaunas und Ponary gehörten auch einige Frauen zu den Arbeitskommandos, die für die Gefangenen kochen und die Unterkünfte säubern mussten, keine von ihnen hat überlebt. Die Kommandeure waren angewiesen worden, an erster Stelle jüdische Männer als Arbeiter auszusuchen und nur in Ausnahmefällen nichtjüdische Zivilisten oder Kriegsgefangene zu verwenden. An den Tatorten wurden die Gefangenen gezwungen, die Gräber mit Schaufeln zu öffnen und die Leichen mit metallenen Haken, in einigen Fällen auch mit den bloßen Händen aus den Gruben zu ziehen und zu den Verbrennungsplätzen zu schleppen, wo die Toten schichtweise mit Brennholz zu Scheiterhaufen aufgestapelt wurden. Vor dem Entzünden wurden diese Stapel mit Öl oder Benzin übergossen und in einigen Fällen mit Brandbomben versehen.

Anschließend mussten die Arbeiter Wertgegenstände wie Schmuck oder Zahngold mit Sieben aus der Asche lesen und unverbrannte Knochenreste zerkleinern. Die Asche hatten sie zu vergraben, in Flüsse zu schütten oder zu verstreuen. Zum Schluss mussten die Gefangenen die geleerten Gruben mit Erde zuschütten, einebnen und zur Tarnung bepflanzen. Je nach Umfang der Massengräber waren die Spurenverwischungen arbeitsteilig organisiert und teilweise mechanisiert - an einigen Tatorten wurden zusätzlich Greifbagger zur Öffnung der Gräber verwendet und die Knochenreste in motorbetriebenen Kugelmühlen zermahlen.

Alle Kommandoführer waren darüber informiert worden, dass sie die Arbeiter am Ende der Spurenverwischungen als Zeugen zu erschießen hatten.

Die Häftlinge standen unter permanenter Bewachung, mussten in hohem Tempo arbeiten und wurden über ihre Zukunft im Ungewissen belassen bzw. vorsätzlich getäuscht. Nicht an allen Tatorten erhielten die Arbeiter die Gelegenheit sich zu waschen oder die Kleidung zu wechseln. In den Zeugnissen von Überlebenden sind Beispiele von grenzenloser Verzweiflung und schwärzestem Humor zu finden. (3) Nachdem einigen Arbeitern in Lwów und Kiew die Flucht gelungen war, wurden alle Häftlinge der 1005-Kommandos mit Fußketten gefesselt. Am Ende eines Arbeitstages sperrten die Deutschen die Männer in örtliche Gefängnisse, abgeriegelte Gebäude in der Umgebung der Arbeitsstellen oder "Bunker" genannte Erdhöhlen mit extra schmalem Eingang, durch die nur eine Person gleichzeitig gehen konnte. Dokumentiert sind mehrere Fälle, in denen sich Arbeiter in den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft das Leben nahmen. Alle als krank, schwach oder verletzt eingeschätzten Männer wurden von den SD-Beamten der Kommandos erschossen, häufig unter dem Vorwand einer angeblichen medizinischen Behandlung. Auch während der Exekutionen am Ende eines Einsatzes arbeiteten die SD-Männer und Polizisten zusammen. Die Polizisten riegelten den Tatort ab, bewachten die Arbeiter und führten sie einzeln oder in kleinen Gruppen zum Exekutionsplatz. Oftmals hatten sich die Gefangenen auszuziehen und sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden oder auf einen vorbereiteten Scheiterhaufen zu legen, bevor sie von den SD-Beamten mit Genickschüssen ermordet wurden. Anschließend wurden ihre Leichen verbrannt, damit auch von ihnen keine Spur übrig bleibe.

Über den Verlauf der Arbeiten informierten sich Blobel und seine Stellvertreter durch Inspektionsbesuche an den Tatorten. Die Zahl der verbrannten Leichen meldeten die Kommandoführer unter Tarnbezeichnungen wie „Wettermeldungen” als „Wolkenhöhe” über örtliche Dienststellen der Sicherheitspolizei an das RSHA in Berlin.

Spuren von Massenverbrechen wurden in vielen von Deutschland besetzten Ländern Osteuropas verwischt. Nachzuweisen ist die Arbeit von 1005-Kommandos im heutigen Serbien, in der Ukraine, in Weißrussland, Russland, Estland, Litauen, Lettland und Polen. Am intensivsten wurde die >Aktion 1005< zwischen Herbst 1943 und Herbst 1944 betrieben. Neben 1005-Kommandos, die nur für wenige Wochen zusammengestellt wurden und deren Angehörige nach Beendigung der Spurenverwischungen wieder zu ihren früheren Dienststellen zurückkehrten, bestanden auch mehrere überregional bzw. länderübergreifend tätige Einheiten. Etwa die Sonderkommandos 1005 A, 1005 B und das Sonderkommando 1005-Mitte, die sich über einen Zeitraum von etwa zwölf Monaten von Tatort zu Tatort bewegten.

Mit der Entscheidung für die systematische Verwischung der Spuren von Massenverbrechen im Januar 1942 traf die nazideutsche Staatsführung Vorsorge für den Fall einer militärischen Niederlage, zumindest für den Fall eines Rückschlages. Dieser begann sich bereits im November 1941 abzuzeichnen, als der für die Kriegsstrategie der Deutschen entscheidende Vormarsch der Wehrmacht auf Moskau durch die Rote Armee gestoppt werden konnte. Erst wer die Stärke seiner Feinde zu fürchten beginnt, wer damit rechnet, für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden, wird sich um die Verwischung von Spuren kümmern.

Die Praxis der >Aktion 1005< weist die für viele Verbrechen der Nazideutschen typische Mischung aus Rationalität und Wahn auf. Wer Beweise auslöscht, um seiner Strafe zu entgehen bzw. das Strafmaß zu mildern, handelt verbrecherisch und rational. Die Exhumierung und Verbrennung von bis zu mehreren Zehntausend Leichen auf Scheiterhaufen im Freien jedoch ließ sich selbstverständlich nicht vor der örtlichen Bevölkerung verbergen. Die >Aktion 1005< war also alles andere als eine >Geheime Reichssache<. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die Täter von einem anderen Gedanken ausgingen: von einer nichtjüdischen Bevölkerung, die mit wenigen Ausnahmen nicht eingegriffen hatte, als ihre jüdischen Nachbarn zusammen getrieben und ermordet worden waren, konnte auch während der Verbrennung der Toten mit Passivität gerechnet werden.

Unter Historikerinnen und Historikern, die die >Aktion 1005< zumindest erwähnen, besteht die bemerkenswerte Tendenz, die Arbeit der Häftlinge der 1005-Kommandos mit Adjektiven wie „unvorstellbar” oder „unaussprechlich” zu charakterisieren, obwohl sehr detaillierte Zeugnisse von Überlebenden vorliegen. Denn trotz der Arbeit an den Gräbern und Verbrennungsplätzen, trotz Schlägen und permanenter Todesgefahr gelang einigen Gefangenen die Flucht. Teilweise nach wochenlangen Vorbereitungen, teilweise in letzter Sekunde, während ihrer Exekution. Neben den bereits erwähnten Ausbrüchen von Arbeitshäftlingen in Babi Yar und Janowska entkamen Gefangene von 1005-Kommandos aus Ponary bei Kaunas, aus dem IX. Fort am Stadtrand von Vilinius, aus dem Waldlager Borek nahe der ostpolnischen Stadt Chełm, nahe Białystok, nahe Polikowitschi in Weißrussland und südlich von Belgrad in Serbien. Trotz intensiver Suche der Deutschen gelang es einigen der Entkommenen, in Verstecken zu überleben. Viele von ihnen schlossen sich Partisanengruppen an, um gegen die Deutschen zu kämpfen.



Teil 2 - Die >Aktion 1005< in Rīga

Im Verlauf des Januar 1944 suchte Paul Blobel den HSSPF Friedrich Jeckeln in Rīga auf, um mit ihm die organisatorische Vorbereitung der >Aktion 1005< in Rīga und Umgebung zu besprechen.(4) Bei der Einheit, die Blobel dann Anfang April 1944 zur Ausführung des Auftrages schickte, handelte es sich um das Sonderkommando 1005 B. Es bestand aus 7 oder 8 SD-Beamten sowie mindestens 40, möglicherweise auch 50 deutschen Ordnungspolizisten, die von Otto Winter geführt wurden.

Dieses Sonderkommando war bereits im August 1943 von Hans Sohns, dem Koordinator der Spurenverwischungen im Gebiet der Ukraine, in Dnjepropetrowsk aufgestellt worden. Der Versammlungsort deutet darauf hin, dass die zunächst von Fritz Zietlow geführte Einheit für die Verwischung von Spuren im Osten der Ukraine vorgesehen war. Für den westlichen Teil des Gebietes wurde in Kiew ein zweites Kommando zusammengestellt, das Sonderkommando 1005 A.

Gemeinsam betrieben die beiden Verbände die Auslöschung von Mordspuren in der Schlucht Babi Yar bei Kiew. Dort zwangen sie insgesamt 327 jüdische und nichtjüdische Häftlinge zum Öffnen von Massengräbern und zur Verbrennung von mehreren Zehntausend Leichen. Bei den Opfern handelte es sich mehrheitlich um jüdische Zivilisten, die ab Ende September 1941 erschossen worden waren. Zu den Tätern hatten auch die Männer des von Paul Blobel geführten Sonderkommandos 4a gehört, Blobel hatte also auch ein persönliches Interesse an diesem Einsatz. Aus Sicht der Deutschen jedoch verliefen die Spurenverwischungen in Babi Yar nicht ganz planmäßig, da einem Teil der Arbeiter am frühen Morgen des 29. September 1943, unmittelbar vor Beendigung der Leichenverbrennungen, der Ausbruch aus einem Erdbunker gelang. 25 Männer entkamen zunächst in kleinen Gruppen, 15 von ihnen durchbrachen schließlich die Absperrung der Schlucht und konnten sich in Sicherheit bringen. Alle übrigen Arbeiter, mindestens 250 Männer, wurden von Angehörigen der Sonderkommandos erschossen.

Nach den Spurenverwischungen in Kiew waren die Männer des SK 1005 B in der ukrainischen Stadt Kriwoj-Rog tätig, anschließend setzten sie ihre Arbeit in Nikolajew fort. Dort mussten mindestens 30 jüdische Gefangene mehrere Massengräber öffnen und mehr als 3.000 Leichen verbrennen. Die Arbeiter wurden in der zweiten Hälfte des Dezember 1943 erschossen, die Angehörigen des Kommandos feierten das Ende der Arbeit mit einem „Kameradschaftsabend”.

Nach einer Pause zwischen Weihnachten und dem christlichen Neujahr 1944 wurde das Kommando in der Nähe des ukrainischen Dorfes Woskressenskoje, östlich von Nikolajew eingesetzt. Mindestens 10, möglicherweise bis zu 15 Gefangene mussten an Gräbern und Scheiterhaufen arbeiten, bevor auch sie von den Deutschen erschossen und ihre Leichen verbrannt wurden.

Offensichtlich wurde die Verwischung von Mordspuren im damaligen Deutschland als gewöhnliche Arbeit angesehen, für die also auch Urlaubszeiten einzuberechnen waren. Denn Ende Januar 1944 bewegte sich das Kommando aus dem Südosten der Ukraine nach Polen und fuhr vier Wochen in die Hohe Tatra, wo ein Teil der Männer einen Skikurs absolvierte.

Nach dem Winterurlaub scheinen zunächst noch Einsätze des Sonderkommandos in der südlichen Ukraine geplant gewesen zu sein. Wegen der stetig im Vormarsch befindlichen sowjetischen Armee jedoch wurde auf weitere Spurenverwischungen in dieser Gegend verzichtet. Blobel beorderte die Männer schließlich in vermeintlich sichere Arbeitsgebiete, nach Lettland. Dort änderte sich auch die Zusammensetzung der Einheit. Zietlows Posten als Kommandoführer übernahm nun Walter Helfsgott, ein in Morddingen erfahrener SS-Obersturmbannführer, der vor seiner Rekrutierung ein Jahr lang zusammen mit ukrainischen Hilfstruppen Jagd auf Partisanen und versteckte jüdische Zivilisten gemacht hatte.

Nach ihrer Ankunft in Rīga im April 1944 wurden die Männer des Sonderkommandos auf dem Gelände des Konzentrationslagers Salaspils untergebracht.

Im Dezember 1941 hatten jüdische Männer, die aus Deutschland nach Rīga deportiert worden waren, mit dem Bau der ersten Häftlingsbaracken von Salaspils beginnen müssen. Die Höchstzahl der Lagerhäftlinge wird auf über 25.000 Menschen in insgesamt 45 Baracken geschätzt. In den ersten Monaten seines Bestehens wurde Salaspils ausschließlich als Todeslager für jüdische Männer aus Deutschland betrieben. Zu diesen mehreren Tausend „Reichsjuden” kamen ab Mai 1942 einige tausend als „Politische” kategorisierte Letten als Gefangene ins Lager. Die Zahl und Zusammensetzung der Inhaftierten änderte sich nochmals ab Sommer 1943, als die Deutschen lettische Familien nach Salaspils brachten, die der Widerstandstätigkeit verdächtigt wurden. Kinder bis zum Alter von fünf Jahren sperrten die Lagerwachen in eine gesonderte Baracke, mehrere Hundert dieser Kleinkinder starben während der Haft.

Offensichtlich setzte auch die Kommandantur von Salaspils das für die Konzentrationslager der Deutschen charakteristische System verschiedener Häftlingsklassen als zusätzliches Herrschaftsmittel ein. In Baracken, die sich 200 lettische Häftlinge teilen mussten, wurden üblicherweise bis zu 400 jüdische Häftlinge gepfercht.

Neben dem Konzentrationslager befand sich in Salaspils auch ein Straflager für sowjetische Kriegsgefangene. Die ersten Soldaten waren dort bereits im Herbst 1941 in alte Kasernen gesperrt worden, später hielten die Deutschen sie auf zwei mit Stacheldraht umzäunten Plätzen. Die Zahl der im Spätherbst 1941 in Salaspils befindlichen Kriegsgefangenen wird auf mehrere Zehntausend geschätzt, im Juni 1942 waren von ihnen nur noch 3.434 am Leben.(5)

Die Männer des Sonderkommandos nutzten die Räume des Lagerpersonals von Salaspils für mehrere Wochen als Quartier. Kommandant des von den Deutschen als „Arbeitserziehungslager” bezeichneten KZ war zum damaligen Zeitpunkt Kurt Krause, der wiederum dem in Rīga stationierten Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) Rudolf Lange unterstellt war. Mit Lange besprach Helfsgott auch die Einzelheiten der >Aktion 1005<. Die beiden Beamten lokalisierten die Massengräber in der näheren Umgebung von Rīga und kamen überein, dass mÖglichst ausschließlich jüdische Häftlinge für die Arbeiten an den Gräbern und Verbrennungsplätzen verwendet werden sollten. Lange würde sie aus Lagern und Gefängnissen herbeischaffen lassen, die ihm unterstellt waren. Einigkeit bestand zwischen den Männern auch darüber, dass die Gefangenen nach Beendigung der Spurenverwischung als Zeugen ermordet werden sollten.

Die erste Arbeitsstelle des Sonderkommandos befand sich im Wald von Rumbula, etwa auf Höhe des gleichnamigen Stadtbahnhofes, neben der nach Daugavpils führenden Hauptstraße. Innerhalb von zwei Tagen im November und Dezember 1941 hatten deutsche Täter und ihre lettischen Helfer in diesem Waldgebiet mindestens 23.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus dem Ghetto von Rīga erschossen. Im Unterschied zu den Exekutionen vom November gelang es einigen der in den Wald getriebenen Juden im Dezember den deutschen Mördern zu entkommen. Neben Ella Madalje, Frida Michelson und dem Ehepaar Lutrins überlebte auch die damals knapp zweiundzwanzigjährige Beila Hamburg.(6)

Knapp zweieinhalb Jahre nach den Massenmorden von Rumbula nahm das Sonderkommando seine Arbeit an diesem wieder von Pflanzen bewachsenen Tatort auf. Von Ende April bis wahrscheinlich Anfang Juni 1944 mussten mindestens 30 jüdische Gefangene, die auf Langes Anweisung hin dem Sonderkommando ausgeliefert worden waren, mehrere der im Wald gelegenen Gräber öffnen. Zeitweilig ließ Helfsgott auch einen Greifbagger verwenden, der von dem Kommandoangehörigen Walter Fiedler gesteuert wurde. Die Arbeiter wurden gezwungen, die Toten mit Metallhaken aus den Gruben zu ziehen und abwechselnd mit Lagen von Brennholz zu Scheiterhaufen aufzuschichten, die vor dem Entzünden mit Öl oder Benzin übergossen wurden.

Nach der Verbrennung der Leichen hatten die Gefangenen in der für die >Aktion 1005< üblichen Weise Wertgegenstände mit Sieben aus der Asche zu lesen, unverbrannte Knochenreste zu zerkleinern und schließlich die Asche zu verstreuen. Sowohl tagsüber als auch während der Nacht waren die Arbeiter mit Fußketten gefesselt.

Nach Aussage von Kommandoführer Helfsgott hielt sich Paul Blobel während der Spurenverwischungen mehrmals in Rīga auf, um die Arbeit des Sonderkommandos zu begutachten. Begleitet habe ihn dabei Paul von Radomski, der seit März 1944 als Koordinator der >Aktion 1005< im Nordabschnitt der Front tätig war.

Im Stuttgarter Verfahren gegen Hans Sohns u.a. waren die Richter 1969 nicht in der Lage, die Dauer der Spurenverwischung im Wald von Rumbula sowie die Zahl der dort verbrannten Toten genau zu bestimmen. Sie schlossen sich in ihrem Urteilsspruch nicht den Feststellungen der Staatsanwaltschaft an, wonach 40 bis 50 Arbeitshäftlinge zwischen 12.000 und 20.000 Tote jeden Alters aus mindestens 6 Massengräbern verbrennen mussten.(6) Ungeklärt blieb auch, ob die SD-Männer des Kommandos die Arbeiter nach Beendigung der Spurenverwischung in Rumbula ermordeten oder zum nächsten Tatort mitnahmen.

Diese zweite Arbeitsstelle des Sonderkommandos war der östlich der Rīgaer Altstadt gelegene Wald von Bikernieki. Hier bezogen die Männer einige Baracken, die Häftlinge des KZ Salaspils unter Aufsicht der Kommandoangehörigen Fritz Kirstein und des gelernten Tischlers Hermann Kappen bis spätestens Mitte Mai 1944 errichtet hatten. Dieselben Häftlinge mussten auch einen Erdbunker graben und befestigen, in dem die Häftlinge des Kommandos nach der Arbeit zusammengepfercht wurden. Bemerkenswert ist das Stimmungsbild, das sich Hermann Kappen rückblickend als Erinnerung an diese Bauarbeiten ausgemalt hat:

„Während unseres Einsatzes in Rīga wurde ich abgestellt als Tischler zum Aufbau von Baracken. Als Arbeitskräfte wurden dort Juden von dem großen Judenlager bei Rīga verwendet. Sie konnten [sich] ziemlich frei bewegen. Sie wurden von ausländischen Hebis [ Hilfswillige, J.H.] bewacht. [...] Mir fällt jetzt ein, daß einer von den Arbeitsjuden, die zum Sonderkommando gehörten, mir zugeteilt war, um mir beim Aufbau einer kleinen Baracke zu helfen. Er stammte aus Dortmund. Er war angeblich Besitzer der Kaffeehandelsfirma Kairo. Er wurde bei Ende des Einsatzes an dieser großen Grabstelle erschossen. Ein Kamerad bestellte mir von ihm noch einen Gruß.”(8)

So blieb von dem Mord an einem rechtlosen jüdischen Gefangenen in Kappens sentimentaler Nachkriegsversion nur der Gruß des Opfers an einen der Täter übrig.

Bereits unmittelbar nach der Besetzung Rīgas durch die Wehrmacht am 1. Juli 1941 hatten Deutsche und ihre lettischen Helfer das Waldgebiet von Bikernieki als Tatort für Massenverbrechen verwendet. Die ersten Opfer waren mehrere Tausend jüdische Männer, die im Verlauf des Juli 1941 von lettischen Milizionären, viele von ihnen gehörten der faschistischen Organisation Pérkonkrúst an, gefangen genommen, gefoltert und in Bikernieki erschossen worden waren. Über mehrere Monate hinweg mordeten Einheiten des KdS Rīga, das zur Einsatzgruppe A gehörende Einsatzkommando 2 sowie das lettische Sonderkommando Arajs im südwestlichen Gebiet des Waldes. Neben jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Rīga und Umgebung wurden in Bikernieki auch mehrere Tausend deportierte Juden aus Deutschland, österreich und der Tschechoslowakei erschossen. Die genaue Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt. Auf einem sowjetischen Denkmal wurde die Zahl der in Bikernieki ermordeten sowjetischen Bürger mit 46.500 beziffert. Doch erst auf dem im November 2001 eingeweihten Holocaust-Mahnmal wird erwähnt, dass die große Mehrheit der Erschossenen jüdische Zivilisten waren.(9)

Etwa von Mitte Juni bis Mitte September 1944 löschte das Sonderkommando Spuren der Massenexekutionen im Wald von Bikernieki aus. Zwei Gruppen von jeweils mindestens 30 jüdischen Männern wurden nacheinander zur Arbeit an den Gräbern und Verbrennungsplätzen gezwungen. Zumindest bei einer der Gruppen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Häftlinge aus dem KZ Kaiserwald, das die Deutschen im Sommer 1943 in der Nähe des Rīgaer Villenviertels Mezaparks, zwischen Eisenbahngleisen und der Viestura-Straße abgeriegelt hatten. Die Männer waren wegen ihrer Jugend und kräftigen Statur für das im Lager als „Kartoffelkommando” bzw. „Stützpunkt” bezeichnete Kommando 1005 B ausgewählt worden. Mindestens 20.000 Tote aus mehreren Massengräbern schleppten die Männer zu den Verbrennungsplätzen. Die Zahl der verbrannten Leichen gab Kommandoführer Helfsgott wöchentlich als „Holzmeldungen” getarnt an Herbert Lange weiter.(10)

Konkrete Hinweise gibt es auch darauf, dass Männer des Sonderkommandos während der Spurenverwischungen an mehreren Exekutionen von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen beteiligt waren. Demnach ermordete eine Gruppe von Schützen, der u.a. Herbert Lange und Kurt Krause angehörten, Mitte August 1944 etwa 500 invalide sowjetische Kriegsgefangene und 70 bis 80 als "arbeitsunfähig" eingeschätzte Häftlinge des KZ Salaspils. Die Leichen der in der Nähe des Salaspilser Bahnhofs Erschossenen wurden schließlich auf einem Scheiterhaufen verbrannt, der auf Anweisung von Walter Helfsgott errichtet worden war.(11)

Über die Lebensbedingungen der Häftlinge im Wald von Bikernieki ist nichts bekannt geworden. Nachrichten von ihrem Tod beschränken sich in den Akten des Verfahrens gegen Sohns u.a. auf die Angabe von Exekutionsdaten und -umständen. Demnach wurden die Männer der ersten Gruppe Ende Juni oder im Verlauf des Juli 1944 von Polizisten des Sonderkommandos zum Exekutionsplatz geführt und von den SD-Beamten erschossen. Auf dieselbe Weise starben die mindestens 30 Männer der zweiten Gruppe nach Beendigung der >Aktion 1005< in Bikernieki Mitte September 1944. Nach Überzeugung der Richter war Walter Helfsgott während der Exekutionen am Tatort, habe selbst aber nicht geschossen:

„Zwar hielt auch er [Helfsgott, J.H.] die Exekutionen aus Gründen der Geheimhaltung der sichtbar gewordenen nationalsozialistischen Greueltaten für unumgänglich, um dem deutschen Volk die Rache des Feindes zu ersparen. Aber es scheint so, als ob er seine persönliche Beteiligung und Anwesenheit bei den Exekutionen gerne vermieden hätte und an ihnen nur deshalb teilnahm, weil er sich durch Befehle Dr. Langes dazu verpflichtet sah und glaubte, eine Weigerung würde schwerste und lebensgefährliche Folgen nach sich ziehen. Jedenfalls war Helfsgott bemüht, sich in die Exekution möglichst nur am Rande einzuschalten, etwa durch Einteilung und Überwachung der Absperrposten und dergleichen.”(12)

Dass sich der Angeklagte bei den Exekutionen der Arbeiter, die er selbst für "unumgänglich" hielt, nur "am Rande" beteiligte, sahen die Richter als hinreichenden Grund für Walter Helfsgotts Freispruch an.

Im Verfahren gegen Hans Sohns u.a. konnte nach Ansicht der Richter überdies nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob das Sonderkommando vor seinem Rückzug auch noch Spuren von Massenverbrechen im KZ Kaiserwald ausgelöscht hat. Es liegen jedoch zumindest Hinweise vor, dass Angehörige des Kommandos 40 bis 60 Gefangene des Konzentrationslagers dazu zwangen, mit Spurenverwischungen an den Massengräbern von Kaiserwald zu beginnen.(13)

Spätestens Ende September 1944 verließen die Männer des Sonderkommandos Rīga. Ein Transportschiff brachte die von Helfsgott geführte Einheit nach Gdansk. Auf dem Schiff befanden sich auch zahlreiche Häftlinge der Deutschen, aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem KZ Kaiserwald. Nach der Ankunft in Gdansk wurde die Mehrheit der weiblichen Häftlinge in das KZ Stutthof gebracht, die Männer trieben die Deutschen auf „Todesmärschen” in verschiedene Zwangsarbeits- und Konzentrationslager des Reichsgebietes.

Rīga wurde am 13. Oktober 1944 von Einheiten der Roten Armee befreit. Die Soldaten trafen auf etwa 150 jüdische Überlebende.(14)

Für Helfsgotts Männer endete die >Aktion 1005< im Herbst 1944, ihr Einsatz für Nazideutschland jedoch ging weiter. Von Gdansk fuhren sie mit der Bahn nach Salzburg, wurden zusammen mit AngehÖrigen anderer 1005-Kommandos in die Einsatzgruppe >Iltis< eingegliedert und bis zum Ende des Krieges unter Paul Blobels Leitung im österreichisch-jugoslawischen Grenzgebiet im Kampf gegen Partisanen eingesetzt. Obwohl sich die Männer des Sonderkommandos um Gründlichkeit bemüht hatten, gelang es ihnen nicht, alle Spuren deutscher Verbrechen auszulöschen. Nach dem Rückzug der Wehrmacht aus Lettland fanden Einheiten der sowjetischen Armee in der Umgebung früherer Kriegsgefangenenlager bei Rīga, Daugavpils, Liepaja, Rezekne und Jelgava die Überreste mehrere Zehntausend getöteter sowjetischer Soldaten.(15)

Zumindest eine Spur konnte auch von einem der jüdischen Gefangenen des Sonderkommandos überliefert werden. Einer jener Männer, die im Wald von Rumbula an den Leichengruben arbeiten mussten, bevor sie selbst erschossen und verbrannt wurden, war Jehaskiel Hamburg. Seine Ehefrau Beila Hamburg konnte noch einen Teil ihrer Geschichte erzählen, bevor sie im Februar 1945 im KZ Stutthof starb.(16)

Paul Blobel wurde im Verlauf des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses nicht als Leiter der >Aktion 1005<, sondern wegen seiner Verbrechen als Führer des Sonderkommandos 4a zum Tod durch Erhängen verurteilt und im Juni 1951 hingerichtet. Von den Männern des Sonderkommandos 1005 B wurden nur Hans Sohns und Fritz Zietlow in der Bundesrepublik für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen. In der bemerkenswerten Urteilsbegründung der Richter heißt es:

„Es ist nicht völlig von der Hand zu weisen, daß die Angeklagten der Auffassung waren, zugleich im Interesse des Volkes zu handeln, als sie sich persönlich hinter den verbrecherischen Plan der Spurenverdeckung durch Beseitigung der Massengräber und Tötung der dabei eingesetzten Arbeitshäftlinge stellten. Dieser Gesichtspunkt ließ es im Vergleich zu anderen rassisch motivierten Willkürtaten, die in der nationalsozialistischen Ära verübt wurden, zu, keinen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auszusprechen.” (17)

Die zunächst gegen Sohns und Zietlow verhängten Zuchthausstrafen von 4 Jahren bzw. 2 Jahren und 6 Monaten wegen Beihilfe zum Mord in 280 bzw. 30 Fällen wurden im August 1971 in Gefängnisstrafen umgewandelt.




Fußnoten:

(1) Bellow (1977): 129
(2) Lanzmann (1988): 20
(3) Siehe Weliczker-Wells (1963): 194f.
(4) Zur Datierung siehe Angrick/Klein (2006): 416.
(5) Angaben zu Salaspils nach Verstermanis (2002): 478ff.
(6) Die Namen der Überlebenden der Exekutionen vom 8. Dezember 1941 nach Kugler (2004): 219. Nicht zuletzt wegen des reißerischen Untertitels „Der jüdische SS-Offizier” schaffte es Kuglers sorgfältig recherchiertes Buch auf die Rezensionsseiten der Tageszeitungen und die Empfehlungstische der Buchkaufhäuser. Als medienwirksame Steigerungen bleiben in der Bundesrepublik jetzt wohl nur noch der jüdische KZ-Kommandant und ein jüdischer Adolf Hitler übrig.
(7) Andrej Angrick und Peter Klein übernehmen in ihrer Darstellung der >Aktion 1005< in Rīga die Angaben aus der Anklageschrift im Verfahren gegen Hans Sohns u.a. Siehe Angrick/Klein (2006): 418f., 426f.
(8) Barch B 162/204 ARZ 419/62, Band 2, Bl. 499ff. Vernehmung Hermann Kappen vom 21. Februar 1964.
(9) Angaben zu den Morden im Wald von Bikernieki nach Gutman (Hg.) (1995): 1229 und Kugler (2004): 150f.
(10) Diese als Mindestzahlen zu bewertenden Angaben der Richter unterscheiden sich wie im Fall der Spurenverwischungen in Rumbula deutlich von den Feststellungen der Anklagevertreter im Prozess gegen Sohns u.a. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mussten 50 bis 60 Arbeitshäftlinge zwischen Mitte Juni und Ende Juli 1944 10-12.000 Leichen ausgraben und verbrennen, bevor sie selbst ermordet wurden. Anschließend habe eine aus etwa 40 Männern bestehende Gruppe von Gefangenen zwischen Anfang August und Mitte September 1944 weitere 10.-20.000 Tote in Bikernieki exhumieren und verbrennen müssen. Auch diese Arbeiter wurden am Ende von Angehörigen des Kommandos 1005 B ermordet.
(11) Angaben nach Angrick/Klein (2006): 423f., die sich auf eine Aussage des ehemaligen Verwaltungsleiters des KZ Salaspils, Erich Brauer, berufen.
(12) Barch B 162/204 ARZ 419/62, Band 6, Urteil S.76.
(13) Siehe Angrick/Klein (2006): 427, wo sich die Autoren auf Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen Sohns u.a. berufen.
(14) Vestermanis (2002): 487, Gutman (Hg.) (1995): 1232.
(15) Vestermanis (2002): 482.
(16) Kugler (2004): 221f. Beila Hamburgs Bericht wurde von Abraham Bloch aufgeschrieben; Auszüge des Berichtes in Kugler (2004): 219-221.
(17) Barch B 162/204 ARZ 419/62, Band 6, Urteil S. 198.




Quellen/Literatur:

Bundesarchiv Außenstelle Ludwigsburg (Barch B 204 ARZ 419/62), 17 Js 270/64 Prozessakten der Staatsanwaltschaft Stuttgart im Verfahren gegen Hans Sohns, Fritz Zietlow, Walter Helfsgott und Fritz Kirstein, 19 Bände

Angrick, Andrej/Klein, Peter (2006): Die „Endlösung” in Rīga - Ausbeutung und Vernichtung; Darmstadt

Bellow, Saul (1977): To Jerusalem and Back - A Personal Account; Harmondsworth

Gutman, Israel (Hg.) (1995): Enzyklopädie des Holocaust; München

Hoffmann, Jens: Brände - „Aktion 1005”, Auslöschung der Spuren von Massenverbrechen durch deutsche Täter; konkret-Verlage, Hamburg 2008

Kugler, Anita (2004): Scherwitz - Der jüdische SS-Offizier; Köln

Spector, Shmuel (1990): Aktion 1005 - Effacing the murder of millions; in: Holocaust and Genocide Studies; Vol. 5, No. 2

Vestermanis, Margers (2002): Die nationalsozialistischen Haftstätten und Todeslager im okkupierten Lettland 1941 - 1945; in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager; Frankfurt am Main

Weliczker-Wells, Leon (1963): Ein Sohn Hiobs; München


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